Virtuelles Denkmal "Gerechte der Pflege"

"... die tolldreisten, machthungrigen Horden, sie konnten den Geist nicht morden!"


Margarete Krieg

 

Margarete Krieg arbeitete im Krankenhaus Moabit in Berlin. Bis Hitlers Machtergreifung arbeiteten in diesem Hause viele jüdische Ärzte. Moabit, ein Arbeiterbezirk, war rot, wählte überwiegend KPD oder SPD. Auch Margarete Krieg galt als politisch links und wurde deshalb im April 1933 im Zuge "der Säuberung" des Krankenhauses entlassen. Ihre Arbeitspapiere wurden von der Personalverwaltung einbehalten, was einem Berufsverbot gleichkam.

 

Quellen:Dr. Christian Pross; "Nicht misshandeln", ISBN 3-88725-109-1

 

Bronislava Krištopaviciene

 

Bronislava wurde 1888 in Kublichi, einem Dorf in Weißrussland (Republik Belarus) geboren. Sie zog nach Kowno in Litauen und heiratete Povilas Krištopavicius. Das Ehepaar bekam einen Sohn. Bronislavas Mann, Offizier der litauischen Armee, wurde 1940 von den Sowjets nach Sibirien deportiert, wo er im Gulag starb.

 

Die verwitwete Krankenschwester wurde im März 1944 von der Jüdin Zinaida Levina um Hilfe gebeten. Zinaida Levina lebte mit ihrem Mann und der im September 1941 geborenen Tochter Anita im Ghetto von Kowno, was später zum KZ umfunktioniert wurde. Die meisten Ghettobewohner mussten Zwangsarbeit in Rüstungsfabriken außerhalb des Ghettos leisten, sodass Außenkontakte unter erschwerten Bedingungen möglich waren. Am 27. und 28.3.1944 wurden etwa 1800 Ghettobewohner zusammengetrieben und ermordet, überwiegend Kinder und arbeitsunfähige Menschen. Zinaida war es gelungen, ihre Tochter zu verstecken und fürchtete um das Leben ihres Kindes.

 

Bronislava Krištopaviciene half. Mit einer Arbeiterbrigade kam sie ins Ghetto und schmuggelte das Kind, dass ein Schlafmedikament bekommen hatte, in einem Kartoffelsack aus dem Ghetto heraus. Sie behielt das Kind bei sich und gab das kleine Mädchen anschließend als verwaiste Verwandte aus. Bei der Liquidierung des Ghettos im Juli 1944 gelang Zinaida die Flucht. Die Krankenschwester nahm auch sie und zwei weitere Flüchtlinge, Benjamin Kasimov und seine Frau oder Freundin, auf und versteckte sie in ihrer Wohnung. Alle erlebten die Befreiung Kownos durch die Rote Armee am 1. August 1944.

 

Bronislava musste noch einen schweren Schicksalsschlag hinnehmen, als ihr Sohn in der Nachkriegszeit von einer nationalistischen Bande ermordet wurde. „Das Mädchen aus dem Kartoffelsack“ Anita Friedberg blieb mit ihrer Retterin immer verbunden. Bronislava Krištopaviciene starb 1969 im Alter von 81 Jahren in Kowno.

 

Anita Friedberg beantragte die Ehrung für die litauische Krankenschwester. Der Sohn von Benjamin Kasimov bestätigte die Rettung seines Vaters durch Bronislava. Am 25.12.2006 wurde Bronislava Krištopaviciene von Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern anerkannt.

 

Quelle: YAD VASHEM


 

Régine Krochmal

 

Das kleine Nachbarland Belgien hatte 1914 im ersten Weltkrieg unter deutschen Soldaten sehr gelitten, als ganze Dörfer als Vergeltungsmaßnahmen verwüstet und die Einwohner, auch Frauen und Kinder, ermordet wurden. Diese Greueltaten geschahen unter dem Militärgouveneur Ludwig Freiherr von Falkenhausen. Am 10.5.1940 besetzte Deutschland Belgien erneut und wieder wurde ein von Falkenhausen Militärgouveneur, diesmal der Neffe. Allerdings stellte es sich bald heraus, daß der Wehrmachtsgeneral Alexander von Falkenhausen nicht seinem Onkel nacheiferte. Er versuchte, eine fairere Behandlung der belgischen Bevölkerung durchzusetzen.

 

Aber er konnte nicht verhindern, daß Berlin den SD (Sicherheitsdienst) und die Sipo (Sicherheitspolizei) schickte, die wiederum eine Schreckensherrschaft aufbauten. Gegner der deutschen Besatzer, sogenannte Schutzhäftlinge, kamen in das KZ Fort Breendonk. Der General protestierte offen gegen die "Hölle von Breendonk", doch die SS ließ sich von ihm nichts sagen und folterte, demütigte und mordete dort weiter. Die "Boches" waren den Belgiern aus dem I.Weltkrieg gut in Erinnerung. Sie hassten die deutschen Besatzer und Widerstand jeglicher Art hießen sie willkommen. 200 000 Belgier erkannte man nach dem Krieg als Mitglieder der Résistance an. Es gab auch unter den Belgiern Kollaborateure, Rechtsextreme und Denunzianten. Aber der überwiegende Teil der Bevölkerung dachte freiheitlich und liberal wie die Königin.

 

Schon in den zwanziger Jahren erlebte Belgien einen gewaltigen Zustrom von Juden aus Osteuropa, die ihre Länder aufgrund wirtschaftlicher Not und Diskriminierung verließen. Eigentlich wollten sie nach Übersee, blieben dann aber zahlreich durch fehlende Visa in Belgien "hängen". Sie ließen sich überwiegend in Brüssel und Antwerpen nieder. Außerdem kamen viele junge Leute in das Land, um zu studieren, da sie durch die Zugangsbeschränkungen für Juden die Universitäten ihres Landes nicht besuchen konnten. Wohlhabende belgische Juden unterstützten finanziell die häufig mittellosen Studenten. Ab 1935 setzte eine weitere jüdische Einwanderungswelle aus Deutschland und Österreich ein. Die Belgier differenzierten sehr genau zwischen deutsch und deutsch. Nazis waren Täter, die bekämpft werden mussten. Flüchtlinge aus Deutschland waren Opfer, die Hilfe und Schutz brauchten. 1939 hielten sich in dem kleinen liberalen Land 116 000 Juden auf, wovon über die Hälfte illegal in Belgien lebten.

 

Obwohl die Belgier über die ungeheuere Zahl der Emigranten wenig begeistert waren, drückten die Behörden in der Regel dennoch beide Augen zu. Da viele belgische Juden geachtete und angesehene Bürger waren, fruchtete die antisemitische Propaganda der deutschen Besatzer wenig. Außerdem verbot die belgische Verfassung jegliche Benachteiligung seiner Bürger aus rassistischen oder religiösen Gründen. Daher vermerkten die Einwohnermeldeämter auch keine Religionzugehörigkeit. Mit dem Beginn der Deportationen begann eine einzigartige Hilfswelle. Besonders die Brüsseler und Wallonen riskierten nicht selten den eigenen Kopf, um fremde Menschen zu unterstützen, die oft nicht oder nur schlecht ihre Sprache beherrschten, eine andere Religion hatten und fremde Traditionen. Fast 60 % der Juden im Land konnten dem Zugriff der Nazis entzogen werden. In Holland dagegen waren es nur 12 %. Über 4000 Kinder überlebten, weil man sie in Klöstern, Internaten, Kinderheimen und Pflegefamilien unter falscher Identität versteckte.


Und viele Belgier, die nicht dem aktiven Widerstand angehörten, leisteten dennoch zivilen Ungehorsam. Sie zeigten den Menschen mit dem Stern öffentlich ihre Sympathie, grüßten die Unbekannten, steckten ihnen Nahrungsmittel zu, fingen Denunziantenbriefe ab, verschafften ihnen gefälschte Papiere. Und sie wussten, dass sie sich damit strafbar machten. Diejenigen, die dennoch die Nazischergen ergreifen konnten, kamen zunächst in das Sammellager Mechelen. Dort wurden die Transporte in das Vernichtungslager Auschwitz zusammengestellt. Die Geburtsorte auf der Liste des 20. Deportationzuges zeigt, dass sich aus ganz Europa Juden dorthin geflüchtet hatten. Mit der Nummer 263 musste auch die Krankenschwester Régine Krochmal in den Deportationszug steigen.

 

Régine erblickte am 28.7.1920 als Tochter einer deutschen Mutter und eines österreichisch-polnischen Vaters in Den Haag, Niederlande, das Licht der Welt. Sie wuchs aber in Belgien auf. Im Elternhaus pflegte man nicht die jüdischen Traditionen, sodass sich Régine als nichtreligiös erzogenes Kind häufig fragte, was denn eigentlich an ihr wäre, was sie zu einer Jüdin machte.

 

Zuerst lernte Régine Krankenpflege. Als Lernschwester war sie bei einer Geburt dabei, was sie zutiefst beeindruckte. Deshalb erlernte sie nach Abschluss der Krankenpflegeausbildung den Beruf als Hebamme. Im Juni 1942 wurden alle Juden aus den medizinischen Berufen ausgeschlossen. Damit endete für Régine kurz vor dem Abschluss ihre Hebammenausbildung. Zutiefst enttäuscht verabschiedete sie sich von ihrem Ausbildungsleiter. Aber dieser setzte sich innerhalb seiner Möglichkeiten über die Ausgrenzung der jüdischen Mitarbeiter hinweg und bot ihr an, zu den Prüfungen zu erscheinen. Zwar musste sich Régine nun die letzten Wochen alleine auf die Abschlußprüfungen vorbereiten, schaffte aber dennoch ihr Examen mit Bravour. Durch Zivilcourage erhielt sie so doch noch ihr Diplom als Hebamme.

 

Weiterhin trug Régine ihre Schwesterntracht. Sie weigerte sich, den inzwischen verordneten Judenstern zu tragen. In der Suppenküche einer jüdischen Hilfsorganisation fand sie eine neue Beschäftigung. Dort bekam sie das Angebot, für den Judenrat zu arbeiten. Robert Holzinger, Mitglied des Judenrates, war für die Zustellung von Arbeitsbefehlen, also Deportationen, zuständig. Er galt als zwielichtig, besaß den Ruf als Nazikollaborateur. Für diesen Mann stellten einige junge Leute die Arbeitsbefehle den betroffenen Mitbürgern persönlich zu. Als Gegenleistung erhielten Holtzingers Briefzusteller einen Sonderausweis, der sie vor der Abholung schützte. Régine lehnte ab. Sie empfand diese Arbeit als Verrat.


Also arbeitete sie weiter in der "Soupe Populaire". Dort lernte sie eine etwa zwanzigköpfige Gruppe junger Österreicher kennen, die eine Widerstandsgruppe gegründet hatten, die "Österreichische Freiheitsfront". Sie schloss sich dieser Gruppe an. Wenn es in Deutschland Leute gab, die in der Schwesternkluft für die Nazis Verbrechen ausübten, dann war es nur recht und billig, dass Régine ihre Schwesternuniform dazu benutzte, gefahrlos Kontrollen passieren zu können. Außerdem war sie in ihrer Tracht nicht an die Sperrstunden gebunden. Dieser Umstand erleichterte ihr die Widerstandsarbeit.

 

Die Widerständler fertigten die Zeitung "Die Wahrheit" und Flugblätter an. Mit ihren Schriften versuchten sie, über Nazideutschland aufzuklären und deutsche Soldaten zum Desertieren zu bewegen. Régine bekam die heikle Aufgabe, da sie perfekt die Feindessprache beherrschte, Kontakte zu Soldaten zu knüpfen. Unter einem Vorwand, beispielsweise durch die Frage nach der Uhrzeit, kam sie mit den Männern ins Gespräch, die meistens sehr zugetan reagierten, wenn sie ihre Muttersprache hörten. Sobald Régine bemerkte, dass ihr Gesprächspartner empfänglich für Kritik an den Nazis war, vereinbarte sie ein weiteres Treffen. Zu diesem brachte sie dann Flugblätter mit.

 

Régine war sich darüber völlig bewusst, was ihr blühte, wenn man sie bei dieser Tätigkeit ertappen würde. Auf "Wehrkraftzersetzung" stand die Todesstrafe. Dennoch genoss sie die Solidarität innerhalb ihrer Widerstandsgruppe und das Gefühl, etwas Sinnvolles gegen den Naziterror zu unternehmen.

 

In der Nacht vom 19. zum 20. Januar zog sie mit zwei Freunden in der Wohnung eines dritten Mittstreiters die Zeitung ab, als die Drei auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen parkenden Wagen entdeckten. Da die Deutschen fast alle belgischen Autos beschlagnahmt hatten, war ihnen sofort klar, dass irgendjemand sie verraten hatte. Eine Entdeckung der kleinen Druckerei hätte Folterungen, eventuell die Hinrichtung zur Folge gehabt, auch für den Mieter. Schnell versteckten Régine und ihre beiden Freunde den Vervielfältigungsapparat, Papier, Matritzen und die beiden Männer entkamen durch ein Fenster an der Rückfront des Hauses.


Als an die Tür geklopft wurde, öffnete Régine schlaftrunken und erklärte, dass ein Mann sie in die Wohnung mitgenommen habe, damit sie für eine Nacht eine Bleibe hätte. Régine gab sich als Jüdin zu erkennen. Sie wurde verhaftet, aber sie erreichte ihr Ziel: die Abzugsmaschine blieb unentdeckt. Angesichts der leichten Beute einer untergetauchten Jüdin blieb die befürchtete Wohnungsdurchsuchung aus.

 

Unweigerlich wären dann noch mehr Menschen ins Verderben geraten. Der Preis dafür war hoch. Man brachte Régine in den Keller des berüchtigten Hochhauses, in der die belgische Außenstelle des Reichssicherheitshauptamtes untergebracht war.


Am Morgen des 20. Januars 1943 griff ein englischer Tiefflieger genau dieses Haus an. Der belgische Pilot kämpfte auf Seiten der Engländer. Seinen Vater hatte man dort zu Tode gefoltert. Mit seinem tollkühnen Überfall wollte er ihn rächen. Die spektakuläre Einzelaktion forderte vier Tote, darunter der Chef des Sicherheitsdienstes, und fünf Schwerverletzte. Am Haus entstanden beträchtliche Schäden. Die Brüsseler hatten große Mühe, ihre Freude über den gelungenen Anschlag zu verbergen, denn nicht ein Nachbarhaus war in Mitleidenschaft gezogen worden. Es hatte die Richtigen getroffen. Régine und andere Inhaftierte blieben unverletzt. Sie überlegte, ob sie die allgemeine Verwirrung bei dem unverhofften Angriff zur Flucht nutzen sollte, verwarf aber den Gedanken angesichts der Wachmannschaften, die sich wie tollwütige Hunde benahmen.

Mehrere Tage blieb Régine in dem Keller der Avenue Louise 453 gefangen.

 

Unentwegt füllte er sich mit weiteren Unglücklichen. Überall in Belgien gab es zu dieser Zeit Razzien, die die jüdischen Bürger aus den Betten holten, in Verstecken aufstöberten, auf den Straßen wegfingen. Die Haftbedingungen waren entwürdigend. Für jeden Gang auf die Toilette beispielsweise musste Régine sich an der Tür durch Klopfen bemerkbar machen. Ein flämischer SS-Mann geleitete sie dann mit gezogener Waffe zum WC. Verpflegt wurden die Inhaftierten durch einen Abgesandten des Judenrats, der zweimal täglich Essen brachte. Régine saß und schlief auf einer Holzbank und wenn sie durch das vergitterte Fenster nach draußen schauen wollte, benutzte sie ebenfalls dafür diese Bank. Sie sah auf die Füße vorbeieilender Passanten und beneidete sie um deren Freiheit.

 

Doch es sollte noch schlimmer kommen. Am 27.1.1943 wurde Régine mit anderen Leidensgenossen auf einen Lastwagen verfrachtet und in das Sammellager Mechelen transportiert. Das Sammellager war in der Dossin-Kaserne untergebracht. Derart zusammengepfercht, dass sie sich nicht einmal setzen konnten, erlebte Régine die Fahrt wie in Trance. Die Tage im Gestapokeller hatten sie fertig gemacht.


Die neu Eingelieferten wurden in der Aufnahme nach Namen, Adressen, Geburtsort und Beruf befragt. Die Adressen interessierte die Nazis, um vielleicht dort noch andere Juden aufzuspüren. Die Berufe gaben über eine eventuelle Arbeitsverwendung in Auschwitz Auskunft. Hinter jeden Namen tippten die Schreibkräfte ein stl. für staatenlos. Damit konnten ausländische Botschaften nicht mehr nach ihren Staatsbürgern fahnden. Den Verschleppten wurden sämtliche Papiere und Wertsachen abgenommen. Sie erhielten ein Pappschild mit einer Nummer, unter denen sie registriert waren. Das Sterben begann bürokratisch. Der Staatsbürgerschaft beraubt, als Ausweis ein Stück Pappe an einer Strippe um den Hals, fortan nur noch eine Nummer, so sollte ihre Identität, ihre Persönlichkeit zerstört werden.

 

Neben der Registriernummer prangte ein "XX" auf der Pappe, die Nummer des Transportes, mit dem sie nach Auschwitz gelangen sollten. In einem Nebenraum mussten sich die Angekommenen, auch die Frauen, vor Männern, einer in Zivil, der andere in SS-Uniform, nackt ausziehen. Die Kleider wurden gefilzt, die Körperhöhlen nach Verstecken untersucht. Danach kam die Gepäckkontrolle. Régine hatte keinen Koffer. Aber die Schwesterntracht trug sie noch immer, die sie etwas vor der Anonymität schützte.

 

Die Inhaftierten erhielten eine Decke, einen Teller, einen Becher und einen Löffel. Ungehobelte zweistöckige Verschläge im ersten Stock, ausgestattet mit schmutzigen Strohmatratzen, waren nun ihre Betten und bis auf zwei Tische das einzige Mobiliar. Auf diesen Tischen stand um 7:00 h, 12:00 h und 18:00 h das Essen, was kaum diese Bezeichnung verdiente. Wer keine Pakete mit Nahrungsmitteln von Bekannten, Freunden oder Verwandten bekam, magerte zusehends ab und wurde hinfällig. Allerdings plünderten oft vorher die SS-Leute ungeniert die kostbaren Überlebenspakete, die sich die Absender häufig selber vom Munde absparten.


Intimsphäre gab es nicht. Frauen, Kinder, Alte und Männer teilten sich zwangsweise die Schlafsäle. Zwei Eisenkanister auf dem Treppenabsatz dienten den zahlreichen Personen als "Nachttöpfe", denn nach 21:00 h durfte keiner mehr den Bereich der Schlafsäle verlassen und das Licht wurde abgeschaltet. Im Erdgeschoß, im sogenannten Waschraum, drängelten sich morgens die Menschen vor zehn stinkenden Latrinen und versuchten sich daneben an primitiven Waschbecken zu reinigen. Ungeziefer aller Art quälte die Insassen.

 

Unentwegt waren sie Schikanen und Quälereien durch die SS-Bewacher ausgesetzt. Der Lagerkommandant hetzte nach Laune seinen Schäferhund auf Insassen und sah zu, wie sein Hund die Opfer verstümmelte, nächtliche Appelle zerrten an den Nerven, es wurde geschlagen, getreten, beleidigt, gedemütigt. Régine litt erbärmlich in dem Lager. Besonders schwer zu schaffen machte ihr die fehlende Solidarität unter den Häftlingen. Unter diesen Bedingungen verblassten die traditionellen Werte hinter der kleinsten Vergünstigung, was später Régine als das "Prinzip der Entmenschlichung" bezeichnete. Und die SS tat alles, um Unfrieden und Streit zwischen den Gefangenen anzustacheln.

 

Wenn Menschen bald wahnsinnig vor Hunger in ständigen Angstzuständen vegetierend anfingen, von ihrem Nachbarn Brot zu stehlen, zu lügen, zu betrügen, um Almosen bettelten, um Zuneigung bei den Unterdrückern heischten, im Notfall bereit waren, den eigenen Taten (Vater) für eine Sonderration zu verkaufen - dann hatten die braunen Teufel erreicht, was eigentlich völlig absurd war: die Opfer wurden zu Tätern. Nicht zu Tätern im Sinne einer Gerichtsbarkeit, sondern zu Tätern vor sich selber, vor ihrer eigenen Selbstachtung. Das Sterben ging moralisch weiter.


Régines Zuversicht schwand mit jedem weiteren Lastwagen, der eine Fuhre Unglücklicher in Mechelen ablieferte. Denn sie wusste, dass ab 1000 Menschen im Sammellager der Abtransport nach Auschwitz erfolgen sollte. Anfangs hoffte sie, dass diese Zahl nicht vor Kriegsende erreicht werden würde. Es belastete sie, dass sie in dem KZ weder eine Aufgabe noch eine Beschäftigung fand. Durch diese Untätigkeit wurde das Gefühl der Hilf- und Wehrlosigkeit noch verstärkt. Die seelische Erschütterung bedeutete den nächsten Schritt zum Sterben.


Doch die Zustände in Mechelen besserten sich zumindest etwas. Der Lagerkommandant und andere Nazis in führenden Positionen bereicherten sich derart ungeniert am Eigentum der Juden und wirtschafteten so unverhohlen in die eigene Tasche, dass sie paradoxerweise sogar bei Hitlers Verbrecherregime als koruppte Verbrecher in Ungnade fielen. Der neue Lagerkommandant ließ es zu, dass die Gefangenen dreimal wöchentlich Päckchen empfangen konnten, unkontrolliert und ungeöffnet, ausgeliefert durch den Judenrat. Damit blieben die Absender der Päckchen verborgen.

 

Régine versuchte immer wieder, in der Krankenstation arbeiten zu dürfen. Der dortige Sanitäter war ein Laie, doch ihre Bewerbung wurde trotz ihrer Tracht stets abgelehnt. Das Personal der Krankenstation bekam nicht nur Extrarationen im Essen, sondern war vor allem vor der Deportation geschützt. So versuchte jeder, sich seinen Job in der Krankenstation mit allen Mitteln zu erhalten und vereitelte anderen die Chance, dort unterzukommen.

 

In dieser Trostlosigkeit erreichte Régine durch die neue Postregelung ein Päckchen von Mitgliedern der Österreichischen Befreiungsfront. Ein Kassiber in einer Zahnpastatube teilte ihr die Ankunft eines bedeutenden Widerstandskämpfer mit. Régine begann, für diesen Mann unter persönlichem Verzicht Brot und Seife zu horten, das wichtigste Zahlungsmittel in Mechelen. Der große Mann des Widerstandes entpuppte sich etwas später als körperlich noch kleiner als die bereits sehr zierliche knapp 1,60 Meter große Régine. Aber er prägte mit einem Satz ihre persönliche Maxime, die für sie ein Leben lang gelten sollte: "Régine, die Stellung, die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die Religion oder die Nationalität bedeuten wenig, das Wesentliche kommt vom Herzen." Und so nahm es Régine hin, dass der kleine große Mann mit den Folterspuren im Gesicht der Gestapohaft, all ihre Schätze wie Brot oder Seife, die sie doch nur für ihn organisiert hatte, heimlich an die Kinder des Lagers verschenkte.

 

Die Abfahrt nach Auschwitz verzögerte sich durch Transportschwierigkeiten. Kriegsbedingt fehlte es an Eisenbahnen. Da in dem vorherigen Transport einigen Juden die Flucht durch die Fenster der Personenzüge geglückt war, sollten nun Viehwagen wie in Deutschland und den Ostgebieten eingesetzt werden. Régines Freude über den Zeitgewinn blieb allerdings sehr begrenzt. Denn zunehmend füllte sich das Sammellager und die hygienischen Verhältnisse steigerten sich in der nun restlos überfüllten Kaserne zu einer Katastrophe. Das Sterben wurde ernährungs- und krankheitsbedingt realistisch und endgültig.

 

Unter den Neuzugängen fanden sich aber auch immer mehr Widerstandskämpfer. Nach außen hin beflissen und widerspruchslos organisierten sie klammheimlich Werkzeuge wie Sägen, Messer oder Zangen. Sie wollten unbedingt noch auf belgischem Boden vor der deutschen Grenze die Flucht wagen. Im Nachbarland konnten sie auf keine Hilfe durch die Bevölkerung rechnen.

 

Dabei war ihnen nicht einmal bewusst, was sie wirklich in Ausschwitz erwartete. Der Lagerkommandant verbreitete Gerüchte, dass Auschwitz ein Ghetto im Grünen sei mit ausreichendem Essen, geregeltem Arbeitseinsatz und Unterhaltungsangeboten, in der die Familien zusammenbleiben und ungestört leben könnten. Gerti Scharf, die jüdische Krankenschwester, die im Gegensatz zu Régine das Glück hatte, auf der Krankenstation zu arbeiten, glaubte diese Geschichtchen zwar nicht, die dazu dienten, die Juden in Mechelen zu beruhigen ob ihrer Zukunft. Sie hörte bereits von Hunger und Seuchen in Auschwitz. Sie meinte, genauso wie Régine und andere, dass die Nazis sie durch mangelhafte Ernährung und extremer Zwangsarbeit umbringen würden. Aber die Geschichten von Selektion, Gaskammern, Verbrennungsöfen hielten sie für aufgebauschte, sowjetische Propaganda. Die systematische Ermordung von Millionen Menschen überstieg ihre Vorstellungskraft.

 

Im Lager verbreitete sich das Gerücht, dass die Résistance den Transport überfallen will. Also versuchte man, sich soweit vorzubereiten, dass man der Untergrundorganisation weitgehendst zuarbeiten könnte. Doch die Partisanen hatten den Männern mit ihrer Idee eine Absage erteilt. Sie hielten einen Angriff für zu gefährlich. Die abgewiesenen Widerstandskämpfer blieben trotzdem bei ihrem Plan. Das Jüdische Verteidigungskomitee schmuggelte Geld in das KZ, sodass die Ausbruchwilligen einen 50-Franken-Schein als Starthilfe erhielten. Davon wusste Régine nichts. Sie wurde für den bevorstehenden Abtransport dazu eingeteilt, in ihrem Waggon während der Fahrt nicht reisefähige Alte und Kranke zu versorgen.

 

Im Sanitätswaggon lagen die Gebrechlichen auf Stroh so eng nebeneinander wie die Ölsardinen. Der begleitende Arzt und sie hatten nicht die geringste Chance, ihnen ohne Licht, Medikamente, Lebensmittel oder Wasser zu helfen. Der leitende Arzt der Krankenstation rief Régine vor der Abfahrt am 19.4.1943 noch einmal aus dem Waggon zu sich. Aber er gab ihr keine letzten Instruktionen zur Versorgung der Kranken, sondern erklärte ihr ganz direkt, dass sie in Begleitung dieser Siechen in Auschwitz umgehend in die Gaskammer käme, an die sie immer noch nicht recht glauben mochte. Dr. Bach steckte ihr ein langes Messer zu, dass sie unter ihren Schwesternumhang verbarg, und beschwor sie, die Flucht zu wagen.

 

Das war einfacher gesagt als getan. Die SS hatte die Inhaftierten damit eingeschüchtert, dass sie bei der Ankunft zur Rechenschaft gezogen werden, falls jemand fehlte. So versuchten einige Gutgläubige, die Mitfahrenden in ihrem Waggon an den Fluchtvorbereitungen zu hindern. Régine bemühte sich vergebens, den jungen Arzt in ihrem Krankenwaggon zur Flucht zu bewegen. Dieser wollte die Kranken nicht im Stich lassen. Er hätte erkennen müssen, dass den Hilflosen seine Anwesenheit ohne jegliche Mittel zur Intervention absolut nichts nutzte. Er und Régine füllten eine reine Alibifunktion für die Nazis aus. Immerhin konnte Régine ihn davon abhalten, sie zu hindern, die Latten an einer kleinen Luke mit dem Messer zu beseitigen. Ihre geringe Körpergröße und Wendigkeit erlaubten ihr, durch diese enge Luke ins Freie zu klettern. Als der Zug langsamer fuhr, stieß sie sich von der Waggonwand ab und stürzte unverletzt in die Böschung. Am Boden gepreßt blieb sie reglos liegen, bis der letzte Waggon vorbeiratterte.

 

Kurz darauf hielt der Zug durch eine plötzliche Vollbremsung mit einem Riesenlärm und Régine hörte Schüsse. Sie war gerade noch rechtzeitig abgesprungen, um nicht in den Tumult um den Zug hineinzugeraten. Youra Livchitz, Jean Franklemon und Robert Maistriau führten einen wahnwitzigen, dreisten Überfall aus und stoppten den Zug mit einer Sturmleuchte, die sie mit rotem Seidenpapier beklebt hatten, damit sie als Signallampe wirkte. Mit einer einzigen Pistole schaffte es Youra, die Wachmannschaft kurz in Schach zu halten. In der ersten Überrumpelung nahmen die Deutschen an, dass zahlreiche gut organisierte und bewaffnete Partisanen auf der Lauer lagen. Jean und Robert mit ihren Zangen bemühten sich indessen, die Türen der Viehwagen aufzubrechen. Eine Tür konnten sie knacken, zwei weitere beschädigen, bevor sie vor der wilden Schießerei der Wachleute flüchten mussten. Siebzehn Deportierten gelang Dank einer Sturmlampe, einer Pistole und vier Zangen plus dreier unerschrockener Männer direkt die Flucht. Und die Nazis wagten es aus Furcht vor Heckenschützen nicht, die Waggons zu patrouillieren. Bis zur deutschen Grenze flohen weitere 225 Juden.

 

Darunter ein elfjähriger Junge. Seine Mutter schaffte nicht mehr den Sprung in die Freiheit. Das Kind rannte alleine bis zum Morgen durch die Gegend. Im ersten Dorf klingelte er an der erstbesten Tür. Der völlig verschmutzte Junge sprach kein Flämisch. Die Frau brachte ihn zum Dorfpolizisten, woanders mit Sicherheit das Urteil zur Auslieferung. Der Dorfpolizist erfuhr sehr schnell, dass sich der Bub nicht, wie er erzählte, verlaufen hatte, sondern aus dem "Judenzug" stammte. An den Gleisen fand man Leichen, die ihren Fluchtversuch mit dem Leben bezahlt hatten. "Wir sind gute Belgier, wir werden dich nicht verraten." Das Kind wurde versorgt und ein anderer Polizist schmuggelte ihn auf Schleichwegen an den Deutschen vorbei zu einem sicheren Bahnhof, von dem er zu Freunden fahren und untertauchen konnte. Keiner der Entflohenen wurde verraten.

 

Auch nicht Régine. Um nicht die Orientierung zu verlieren, war sie neben den Gleisen zurückgelaufen. In einem Bahnwärterhäuschen bat sie in ihrer schwer in Mitleidenschaft gezogenen Schwesterntracht einen jungen Eisenbahner um Hilfe. Blitzschnell reagierte er und versteckte sie in einem kleinen Heuschober. Kurz darauf erschien Militärpolizei auf der Suche nach entflohenen Juden. Der Eisenbahner lud die Häscher zu einem Drink ein. Nachdem sie gegangen waren, wies ihr der Bahnwärter morgens den Weg zur Tramhaltestelle nach Brüssel.


An der Haltestelle angekommen erblickte Régine weitere Geflohene aus dem Zug. Sie wagten es nicht, sich offen anzusehen oder gegenseitig anzusprechen. Die Pendler, die um 6:00 h früh mit der Straßenbahn nach Brüssel zur Arbeit fuhren, Arbeiter und Angestellte, spürten, dass mit den Fremden an der Haltestelle etwas nicht stimmte. Ohne ein Wort zu sagen umringten sie die Flüchtigen und schirmten sie vor neugierigen Blicken der Militärpolizei ab.

 

Régine Krochmal hatte nun, dem Sterben entronnen, allen Grund, sich nach ihrer Gefangenennahme und Deportation zu verstecken und geduldig an einem sicheren Ort das Kriegsende abzuwarten. Und was tat sie? Flugs eilte sie zu den Genossen der Österreichischen Freiheitsfront und verteilte wieder Flugblätter und die Untergrundzeitung. Die SS-Schergen erwischten sie mit einem Stapel Zeitungen. Nun war sie nicht nur eine untergetauchte Jüdin, sondern obendrein eine "Politische". Sie kam in Mechelen in Isolierhaft. Dorthin verschleppte man die Frauen der Résistance, da Fort Breendonk ein reines Männer-KZ war. Die Gestapo folterte sie auf das Brutalste, um die Namen ihrer Freunde zu erfahren.

 

In der Nacht vom 3. zum 4. September 1944 hatte ihr Leiden ein Ende: Mithäftlinge schlossen ihre Zellentür auf. Die Amerikaner hatten Belgien befreit.

Régine entkräftete nachhaltig zwei Vorurteile: das eine besagt, dass sich alle Juden wie eine Schafherde willenslos und widerstandsfrei in die Vernichtung trieben ließen. Und das andere zielt auf das angebliche Wesen der Krankenschwester als unpolitisch und berufen zum Dienen.

 

Régine Krochmal zog als Jüdin keinesfalls "den Kopf ein". Régine Krochmal fühlte sich zwar für die Pflege berufen, aber nicht als kritiklose Dienerin. Sich an Régine Krochmal zu erinnern, heißt für uns Pflegekräfte auch, nicht nur ihren Mut und Kampfgeist zu bewundern, sondern dass man seinen Beruf nicht losgelöst vom restlichen Gesellschaftsleben betrachten sollte.

 

Jeder Ausbildungsgang, sei es Geburtshilfe, Heilpädagogik, Alten- oder Krankenpflege müsste als Einführung die neuen SchülerInnen mit ihrem Leben und Kampf konfrontieren. Damit die Pflegekräfte der neuen Generation ein selbstbewussteres Berufsverständnis entwickeln und nicht mehr bei dem Wort "Berufung" zusammenzucken. "Berufung" heißt nicht zu kuschen, sondern für seine Ideale einzutreten und auf seinen Beruf stolz zu sein. Stolze Pflegekräfte verändern die Pflege. Nicht die, die sich klaglos anpassen an bestehende Verhältnisse. Stolz ist keine Schande, sondern eine Kraft.

 

Quellen: Flucht von Juden aus Deportationszügen in Frankreich, Belgien und den Niederlanden. ISBN 978-3-86331-168-1; Stille Rebellen – Der Überfall auf den 20. Deportationszug nach Auschwitz, ISBN 3-7466-8067-0: haGalil: Laurence Schram vom Jüdischen Deportations- und Widerstandsmuseum (JDWM)


 

Aleksandra  "Jubala" Krupa-Szwedowska

 

Von dieser Sanitäterin, Krankenschwester oder Pflegerin ist nur bekannt, dass sie zur Armia Krajowa gehörte und während des Warschauer Aufstandes im Krankenhaus am Luftwaffenstützpunkt „Luzyce“ mit Anna Dyrlacz zusammenarbeitete.

 

Quelle: Encyklopedia Medyków Powstania Warszawskiego


 

Gitla Krycler

 

Die Zahnarztassistentin Gitla Krycler wurde am 16.10.1908 in Bendzin, vermutlich Polen oder Tschechien, geboren. Da die Nazis ihre Opfer als staatenlos erklärten, ist eine Zuordnung der Geburtsorte nicht immer einwandfrei möglich. Sie wurde mit dem XXI. Deportationszug unter der Transportnummer 1467 am 31.7.1943 nach Auschwitz-Birkenau verschleppt. Seitdem fehlen von ihr Lebenszeichen.

 

Ich danke für die Recherche Frau Laurence Schram vom Jüdischen Deportations- und Widerstandsmuseum (JDWM) in der ehemaligen Mechelner Dossinkaserne.


 

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