Virtuelles Denkmal "Gerechte der Pflege"

"... die tolldreisten, machthungrigen Horden, sie konnten den Geist nicht morden!"


Jüdische Pflegekräfte

 

Über die Ausgrenzung der jüdischen Ärzteschaft durch Berufsverbot und Boykott findet man reichlich Literatur. Anhand der Niederlassungen konnte man nach 1945 ziemlich exakt feststellen, wieviele jüdische Ärzte wo und bis wann arbeiteten. Alte Leute berichteten auch mehrheitlich später von dem einen oder anderen jüdischem Arzt und konnten sich meistens auch daran erinnern, wo diese Ärzte ihre Arztpraxen hatten. Doch seltsamerweise erinnerten sich zahlreiche ältere Kolleginnen, mit denen ich mich darüber unterhielt, an gar keinen jüdischen Arzt. Sie kannten einfach keinen, sogar, wenn sie in Krankenhäusern arbeiteten, wo deren Existenz zweifellos belegt werden konnte.

 

Eine jüdische Kollegin hatte erst recht keine von ihnen. Es trat also wieder der kollektive Gedächtnisschwund auf. Denn Lydia R. wusste, dass in der Charité anfangs sehr viele jüdische Ärzte arbeiteten. Sie bekam auch mit, dass ab und zu einer von ihnen ging. Ihr Stationsarzt bekam zum Beispiel eine Anstellung im Ausland, sein Nachfolger war allerdings auch Jude. Von manchem Arzt erfuhr sie erst durch seine Aussonderung, dass er als jüdisch galt. Die Mehrzahl dieser Ärzte verschwanden fast gleichzeitig mit den jüdischen Schwestern. Denn sie erinnerte sich sehr wohl daran, dass einige Schwestern ungerne am Sonntag arbeiteten, andere lieber Freitagnachmittag und den Samstag frei machten. Und die Dienstpläne richteten sich danach, welche Schwester lieber an christlichen oder jüdischen Feiertagen frei haben wollte. Dafür gab es extra einen Kalender, der beide Feiertage vermerkte.

 

Die Augenzeugenberichte sind ein wertvoller Beitrag, um Licht in das Dunkel dieser Zeit zu bekommen. Aber überwiegend erst viel später niedergeschrieben beinhalten sie oft Rechtfertigungsansätze. In ihrer Subjetivität passt sich die Wahrheit oft ohne böse Absicht der Verfasser so an, dass man mit der Vergangenheit leben kann. Von daher sind sie stets mit Vorsicht zu genießen.

 

Auch der Blickwinkel der Zeitzeugen muss berücksichtigt werden. Dann wird deutlich, wieso die Suche nach der Existenz von jüdischen Pflegekräften der berühmten Nadel im Heuhaufen gleicht. Ein Grund ist unsere Männergesellschaft. Den Männern als Historikern fehlten offensichtlich elementare Grammatikkenntnisse, denn es entging ihnen sehr lange, dass die Geschichte oder die Historik weiblich sind. Darum entdeckte die Literatur erst ab den 1980er Jahren zunehmend Frauen. Vorher beschrieben Bücher eher die Helden, die Widerstandskämpfer, die Starken, die Prinzen, die Retter, die Mutigen - und das waren eben Männer. In der Pflege sind und waren aber in der Mehrzahl Frauen beschäftigt.

 

Der zweite Grund hat mit dem Berufsbild zu tun. Der Krankenpflegeberuf als „medizinischer Hilfsberuf“ ist eindeutig eher ein „untergeordneter“ Beruf. Der Arzt genießt ein höheres Ansehen. Man kann das ganze auch etwas drastischer formulieren: Wer will schon etwas über eine „poplige“ Krankenschwester aus dem „Fußvolk“ erfahren? Aufgrund dieser Gegebenheiten ist es ausgesprochen schwierig, Spuren vom jüdischen Pflegepersonal zu finden. Dabei arbeiteten etwa 10 % der erwerbstätigen Jüdinnen im Gesundheits- und Wohlfahrtswesen. Viele von ihnen waren in der Gesundheitspflege der jüdischen Gemeinden beschäftigt. Die Gemeinden unterhielten eigene Polykliniken, Krankenhäuser, Alters- und Siechenheime, Säuglingsheime etc. Am 10.11.1938 wurden die jüdischen Organisationen zerschlagen und ihre Funktionäre verhaftet. Die anschließend von der Naziregierung eingesetzte Reichsvertretung, ab 1939 Reichsvereinigung der Juden, unterhielt bis 1941 noch über fünfzig Krankenhäuser, Kinder-, Alten- und Siechenheime.

 

Die jüdischen PfIegekräfte fielen genauso wie ihre Leidensgenossen anderer Berufe der Verfol-gung zu Opfer. Im Jüdischen Krankenhaus Berlin, dass zunehmend als Sammellager, Gefäng-nis, Frontlazarett und anderes zweckentfremdet wurde, arbeiteten in der verbliebenen Krankenstation zuletzt Pflegekräfte, die als „Mischlinge“ galten oder privilegiert waren durch eine „Mischehe“ oder sogar Pässe neutraler Staaten besaßen. Viele der jungen „Halbjuden“ glaubten noch an ihre Rettung. Einige arbeiteten in der Pflege mit und galten als ausgesprochen verroht, sei es, weil sie sich mit der Gestapo arrangieren wollten oder aus persönlicher Verzweiflung. Nicht selten demütigten und misshandelten sie die Kranken.

 

Es gab aber auch die Krankenschwestern, Kinderpflegerinnen usw., die selber gefährdet, alles daran setzten, eine humane Pflege umzusetzen. Die in Ausnahmesituationen, Internierungslagern, KZ´s, Ghettos nicht bereit waren, ihre Vorstellungen und Ideale aufzugeben. Trotz Verfolgung, Terror, Unterdrückung, Gewalt blieben sie durch ihre Berufsauffassung die moralischen Sieger. Und nicht wenige von ihnen waren alles andere als duldbare Schafe, die sich einfach zur Schlachtbank treiben ließen. Auch im Widerstand waren jüdische Pflegende aktiv. Und zwar mehr, wie es auf den ersten Blick scheinen mag.

 

Es mag daran liegen, dass beispielsweise jüdische Krankenpflegerinnen entschieden früher eine größere Akzeptanz und Achtung in der jüdischen Gemeinde besaßen wie beispielsweise die christlichen Kolleginnen. Als das Pflegepersonal  in Deutschland noch um die eigene Absicherung und Anerkennung kämpfte, gab es bereits für jüdische Pflegepersonen Schwesternkassen, Schwesternvereine, Schwesternheime. Die Reglementierungen auch für den privaten Bereich existierten in allen Schwesternverbänden, aber in den jüdischen Organisationen nie so umfassend wie in den christlichen. Es wurde bereits in der Ausbildung größter Wert auf Bildung gelegt und nicht nur auf das Fachwissen begrenzt. Der Kost- und Logizwang galt eher als Service, Einzahlungen in die Sparbücher oder Pensionskassen verfielen nicht bei Ausscheiden der Schwestern beispielsweise bei Heirat.

 

Jüdische Kolleginnen entwickelten viel eher einen ausgeprägten Berufsstolz. Aus ihrem Selbstbewusstsein heraus lässt sich auch erklären, dass sie aktiver am gesellschaftlichen Leben teilnahmen und teilnehmen konnten. Berufsstolz, Selbstbewusstsein und existentielle Absicherung förderte auch eine kritischere Haltung gegenüber dem Zeitgeist. Durch die Vernichtung der jüdischen Pflege und Pflegenden schadeten die Nazis nicht nur direkt den Betroffenen, sondern nachhaltig der Qualität der Pflege insgesamt in Deutschland.  

 

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