Virtuelles Denkmal "Gerechte der Pflege"

"... die tolldreisten, machthungrigen Horden, sie konnten den Geist nicht morden!"


Recha Schmal

 

Die Krankenschwester Recha Schmal, geboren am 29.9.1900 in Laupheim, war die Tochter von Julius, geboren am 1.7.1863 in Laupheim, und Betty, geborene Oberdorfer am 25.6.1874 in Pflaumloch. Die Familie Schmal gehörte in Laupheim zu den alteingesessenen Familien. Ihr Vater war dort schon wie der Großvater Metzger und Kaufmann. Rechas ältester Bruder starb kurz nach seiner Geburt. Sie hatte noch einen zwei Jahre älteren Bruder, Simon, und einen fünf Jahre jüngeren Bruder, Otto. Die Kinder besuchten die jüdische Volksschule.

Der ältere Bruder Simon studierte später Medizin, nahm am ersten Weltkrieg teil und wanderte später aufgrund des Naziterrors mit seiner Frau in die USA aus. Dem jüngeren Bruder Otto gelang es, mit seiner Frau nach Südafrika auszuwandern. Recha absolvierte in Stuttgart die Ausbildung zur Krankenschwester.

 

Ab 1935 oder 1936 lebte Recha mit ihren Eltern in Bad Cannstatt, wo am 11.11.1938 ihr Vater verstarb. Recha und ihrer Mutter gelang eine Auswanderung nicht. Am 22.8.1942 wurden sie mit dem Transport XIII/1 unter der Nummer 78 und 79 von Stuttgart nach Theresienstadt deportiert.

 

Im Ghetto arbeitete Recha in der Pflege. Ihre Mutter konnte sie nicht retten. Am 30.9.1943 starb Betty Schmal durch die grausamen Zustände in Theresienstadt. Als es im Februar 1945 hieß, dass ein Transport mit 1200 Menschen in die Schweiz gehen sollte, stieß diese Mitteilung auf Misstrauen, denn den Menschen war inzwischen klar, dass sie systematisch von der SS belogen wurden und dass in der Regel die Transporte in die Vernichtung führten.

 

Am 5.2.1945 verließ der Zug Theresienstadt in Richtung Schweiz. In dem Zug saß auch Recha Schmal und fuhr der Freiheit entgegen. Es könnte sein, dass sie ihre Befreiung aus Theresienstadt ihrem Bruder verdankte. Simon hatte in den USA für sie und die Mutter die Einreise beantragt und Bürgschaften hinterlegt. 400 der 1200 Befreiten waren ausgesucht worden für den Transport auf Betreiben von Verwandten im Ausland, sodass es nicht unwahrscheinlich ist, dass sie zu den 400 namentlich angeforderten Flüchtlingen gehörte.

 

Recha kam zunächst in das Flüchtlingslager Les Avant sur Montreux. Von dort reiste sie weiter in die USA, wo sie am 20.4.1945 eintraf. Sie zog zu ihrem Bruder und seiner Familie nach Ithaca im Tompkins County, Bundesstaat New York. 1951 wurde Recha in den USA eingebürgert. Im Tompkins County Hospital fand Recha eine Anstellung und arbeitete dort 16 Jahre lang als Krankenschwester bis zu ihrem Ruhestand. Sie engagierte sich in der zionistischen Frauenorganisation Hadassah, die sich für Frauen und das Gesundheitswesen in Israel einsetzt. Es war ihr gelungen, trotz der schlimmen Vergangenheit ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Als ihre Schwägerin Grete schwer erkrankte, pflegte Recha sie lange bis zu deren Tod 1975. Ihr jüngerer Bruder Otto war bereits 1973 gestorben. Recha Schmal starb am 8.6.1977 im Tompkins County Hospital. Ihr Bruder Simon überlebte sie noch zwei Jahre.

 

Grabstein auf dem Lake View Cemetery, Ithaca

 

Quelle: Johanna Gottschalk; Yad Vashem; Statistik und Deportation der jüdischen Bevölkerung aus dem Deutschen Reich; Die jüdische Gemeinde Laupheim und ihre Zerstörung - Gedenkbuch; Resi Weglein; Find A Grave; ancestry


 

Walter Schmedemann

 

Der am 3.2.1901 geborene Walter Schmedemann war der jüngere Bruder von Wilhelm August Schmedemann. Durch das sozialdemokratische Elternhaus geprägt, trat er bereits mit 14 Jahren in die Sozialistische Arbeiterjugend (SAJ) ein. Mangels finanzieller Möglichkeiten konnte der gute Schüler keine weiterführende Schule besuchen. Nach der Schulzeit absolvierte er also zunächst eine Ausbildung als Verkäufer. Später verdingte er sich als Hafenarbeiter. Mit seiner Ehefrau Erna hatte er zwei Kinder.

 

Ab 1924 war er im Gesundheitsbereich tätig, wobei nicht feststellbar ist, ob er als ausgebildeter oder angelernter Krankenpfleger tätig war. Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass er sich berufsbegleitend nachqualifizierte. Ab 1925 gehörte er dem Betriebsrat im Hamburger Krankenhaus AK St. Georg an. Später übernahm er den Vorsitz in der dortigen Arbeitnehmervertretung. Walter Schmedemann war Gewerkschafts- und SPD-Mitglied und gehörte auch dem Reichsbanner an. 1932 wurde Walter Schmedemann in die Hamburger Bürgerschaft gewählt.

 

Direkt nach Hitlers Machtergreifung verlor Schmedemann seinen Arbeitsplatz und kam für sechs Wochen in Haft. Eine Gruppe von Nazis hatte einen Kameraden vom Reichsbanner bedroht. Walter Schmedemann eilte ihm mit einer Pistole zu Hilfe, für die er keinen Waffenschein besaß. Im Juni 1933 verhaftete die Gestapo die gesamte Hamburger SPD-Führung. Schmedemann gelang es noch, die Parteikasse vor seiner Verhaftung in Sicherheit zu bringen, um die weitere Widerstandsarbeit finanziell sichern zu können. Einen Monat später nach seiner Freilassung begann er, den Widerstand seiner Partei zu organisieren. Im Oktober griff die Gestapo wieder zu. Schmedemann war denunziert worden, weil er Gelder für den Widerstand und Naziverfolgte gesammelt hatte. Der mitverhaftete Kassierer behauptete jedoch, dass sie die Gelder nur zur Selbstbereicherung gesammelt hätten und die Partei lediglich vorgeschoben war.

 

So kam Walter Schmedemann nach etwa sechs Wochen wieder aus der Haft.

Schmedemann verteilte weiterhin illegale Druckschriften, beteiligte sich an Fluchthilfen für Verfolgte und hielt Kontakte zu sozialdemokratischen Vertretungen im Ausland. Im gesamten norddeutschen Raum wurde ein Netz des sozialdemokratischen Widerstandes geknüpft. Aufsehen erregte ein Bericht, den Walter Schmedemann über das KZ Fuhlsbüttel verfasste und dortige Misshandlungen gegen Sozialdemokraten anprangerte. Dieser Bericht wurde an Rechtsanwälte, Pastoren und sogar Polizeistationen gesandt. Im November 1934 geriet Schmedemann wieder in die Fänge der Gestapo. Allerdings konnte die Gestapo nicht den gesamten Umfang der Widerstandsarbeit aufdecken, sodass Walter Schmedemann ein halbes Jahr später wegen Vorbereitung zum Hochverrat "nur" zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Nach der Zuchthausstrafe wurde er 1937 in das KZ-Sachsenhausen überstellt. Ungebrochen trotz schwerster Misshandlungen leistete er auch dort Widerstandsarbeit.

 

Im Oktober 1938 wurde der Mann aus dem KZ entlassen, ein knappes Jahr später wieder dorthin verschleppt. Nach der erneuten Entlassung im November 1939 wurde er zur Arbeit in einer Farbenfabrik dienstverpflichtet. Auch hier baute er sofort eine Widerstandsgruppe auf. Die sogenannten Feindsender wurden abgehört, Informationen ausgetauscht und die dort beschäftigten Zwangsarbeiter mit Lebensmitteln und Kleidung versorgt. 1941 wurden etliche Kollegen der Fabrik verhaftet. Niemand von den Verhafteten belastete ihn, aber andere Kollegen drohten mit Denunziation, wenn er nicht für sie Farben stehlen würde.

 

Daraufhin gestand Schmedemann einen geplanten Diebstahl von Farben, um nicht wieder ins Visier der Gestapo zu geraten. Dafür wurde er zu vier Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Dennoch wurde Schmedemann nach dem Attentat auf Hitler im August 1944 verhaftet und blieb bis September im Polizeigefängnis. Einer erneuten Verhaftung im April 1945 konnte er sich durch einen Krankenhausaufenthalt entziehen.

 

Nach 1945 widmete er sich dem demokratischen Aufbau Deutschlands und arbeitete wieder im Gesundheitsbereich. 1949 wurde er erneut in die Hamburger Bürgerschaft gewählt. 1948 bis 1953 und 1957 bis 1967 war er der Gesundheitssenator von Hamburg. Bei seiner ersten Wahl zum Gesundheitssenator bezweifelte man öffentlich seine Eignung für diesen Posten angesichts seiner Vorstrafen. Ein Ausschuss des Hamburger Senats stellte seine Unschuld in allen Punkten fest. Die Urteile aus der NS-Zeit wurden daraufhin von der Oberstaatsanwaltschaft aufgehoben. Walter Schmedemann starb am 1. April 1976 in Bad Bevensen. Im Stadtteil Hamburg-Langenhorn wurde 1977 ihm zu Ehren eine Straße benannt.

 

Quelle: Wikipedia


 

Wilhelm August Schmedemann

 

Der gelernte Krankenpfleger Wilhelm August Schmedemann, älterer Bruder von Walter Schmedemann, wurde am 21. März 1899 in Hamburg geboren. Er arbeitete zunächst in den Friedrichsberger Anstalten. 1922 heiratete er und bekam mit seiner Frau Olga drei Kinder.

 

Auch er schloss sich früh der Hamburger SPD an. Von 1930 bis 1933 gehörte er der Hamburger Bürgerschaft an und war Mitglied im Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund. Kurz nach der Machtergreifung 1933 verlor er seine Arbeit und wurde im März 1933 als SPD-Mitglied das erste Mal verhaftet und für anderthalb Wochen in ein Konzentrationslager gesteckt. Dennoch leistete er aktiven Widerstand, verteilte illegale Druckschriften, leistete Kurierdienste und wirkte an Fluchthilfen für Naziverfolgte mit.

 

Aufgrund seiner erzwungenen Arbeitslosigkeit versuchte er nach der Haft sich mit einem Kaffeegeschäft selbständig zu machen. Doch bevor das Geschäft richtig laufen konnte, wurde er im September 1933 wieder verhaftet. Er begriff, dass er in höchster Gefahr war und nutzte nun seine Kontakte für die Fluchthilfe für sich selber. Im August 1934 gelang es ihm, nach Dänemark zu entkommen. Dort arbeitete er ab 1937 als Hilfspfleger, weil er seine Ausbildung nicht nachweisen konnte, da die Gestapo seinen Ausbildungsnachweis einbehalten hatte.

 

1939 wurde er durch die Nationalsozialisten ausgebürgert. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Dänemark musste er wieder untertauchen. 1940 gelang ihm die Flucht nach Schweden, wo er sich als Waldarbeiter durchschlug.

Im Frühjahr 1946 kehrte er nach Hamburg zurück und arbeitete wieder als Krankenpfleger. Von 1947 bis 1959 war er Parteisekretär der Hamburger SPD. August Schmedemann starb am 4. September 1972.

 

Die Frage, wie die Brüder Schmedemann Verfolgung, Misshandlungen, jahrelange Flucht, KZ, Haft ungebrochen überleben konnten, lässt sich vielleicht ein wenig durch den Familienzusammenhalt erklären. Walters Frau war auch kurzfristig verhaftet worden, es wurde mit dem Entzug des Sorgerechts gedroht. Die Ehefrauen und Kinder erlebten in Abwesenheit der Väter ärgste Not. Die Eltern der Brüder versteckten selber Naziverfolgte auf ihrer Flucht nach Dänemark. Die Familie der Brüder trugen den Protest gegen die braune Diktatur mit und stärkten ihnen uneingeschränkt den Rücken.

 

Quelle: Die AvS


 

Wilhelmine Schmidt

 

In der Stadt Celle, 25 km von Hannover und 20 km von Bergen Belsen, fand am 8.4.1945, vier Tage vor der Kapitulation der Stadt, ein unglaubliches Massaker statt. Auf dem Celler Güterbahnhof auf Gleis 9 stand ein Zug mit Dutzenden Viehwaggons wegen einer defekten Lok, vollgestopft mit circa 4000 KZ-Häftlingen ohne jegliche Verpflegung. Die Gleisanlagen und Zug wurde von den US-Streitkräften bombardiert, ohne die "Fracht" in den Viehwaggons zu ahnen. Die Hälfte der Häftlinge kamen durch das einsetzende Maschinengewehrfeuer der SS-Wachmannschaft, dem Bombenangriff und die Explosion eines in der Nähe stehenden Munitionszuges sofort um. Die Überlebenden, ausgemergelt, überwiegend blutüberströmt, entkräftet, wehrlos, versuchten in Celle unterzutauchen.

 

Gegen besseren Wissens wurde behauptet, dass sich die Häftlinge mit Waffen ausgerüstet hätten und angeblich Gewalttaten verüben und Plündern würden. Daraufhin begann eine Menschenjagd, später als "Celler Hasenjagd" bezeichnet, die nicht nur von Mitgliedern der SS, der Wehrmacht und der Polizei verübt wurde, sondern auch von "ganz normalen" Bürgern. Wahllos wurde in die Fliehenden hineingeschossen, weil die Mörder sich, laut späterer Aussagen, bedroht gefühlt hätten. Man hätte nur in Notwehr gehandelt und sprach von "Gnadenschüssen" bei Schwerverletzten. Tatsächlich wurden die Häftlinge aus Kellern und Verstecken herausgezerrt, erschossen, erschlagen. Ein britisches Militärgericht schätzte die Opfer dieser Menschenjagd auf ungefähr 200 bis 300. Etwa 1100 Häftlinge wurden gefangen, dreißig an Ort und Stelle exekutiert.

 

Zumindest die Krankenschwester Wilhelmine Schmidt zeigte ein menschliches Antlitz und versuchte, zu helfen. Ein verletzter Häftling, den sie selbst verbunden hatte, wurde von dem Kaufmann Heinrich Luhmann eiskalt erschossen. Als sie einem Häftling Wasser zu trinken gab, wurde sie bedroht: "Wenn ihr diesen Schweinen Wasser gebt, dann seid ihr genau solch ein Schwein".

 

Diese Krankenschwester hatte bereits vorher mit den Nazis Schwierigkeiten. Besagter Kaufmann Heinrich Luhmann hatte sie angezeigt. Vor Gericht zum Massaker unterstellte er ihr deshalb Rachegelüste und wurde deshalb trotz ihrer belastenden Aussage mangels Beweisen freigesprochen.

 

Quelle: Celle im Nationalsozialismus; SS-Männer und Bürger jagten „die Hasen übers Feld“


 

Hilde Schneider

 

Hilde Schneider wurde im November 1916 in Hannover geboren. Ihre Mutter Else war ihrem Mann zuliebe zum Christentum konvertiert. Hilde wurde christlich erzogen, evangelisch getauft und konfirmiert. Mit 9 Jahren erfuhr sie erst von der jüdischen Abstammung ihrer Mutter.

 

"Eines Tages", erzählt Hilde Schneider, "ging meine Mutter mit mir und meiner Tante auf den Friedhof. Und da waren also nun die Gräber, ich sagte, guck mal, da kann man ja sehen, wo die Juden liegen. Weil es eben jüdische Schrift war. Meine Mutter zupfte mich am Ärmel, meine Tante guckte mich an, und ich wusste gar nicht, was das bedeuten sollte. Konnte ich ahnen, dass wir auf dem jüdischen Friedhof waren? Als wir dann nach Hause kamen, sagte meine Mutter zu mir, es täte ihr leid, aber sie hätte mir nichts davon erzählt, dass sie aus jüdischer Familie käme, denn man wüßte ja nicht, wie ich das aufgenommen hätte. Ich sollte erst einmal Juden kennen lernen und sehen, dass das auch gute Leute sind."

 

Als ihre Mutter 1930 starb, heiratete ihr Vater, ein angesehener Arzt mit eigener gutgehender Praxis, eine wesentlich jüngere Frau. Hitlers Machtergreifung wurde im Hause Schneider nicht als Bedrohung empfunden, im Gegenteil. Paul Schneider, Kriegsveteran, Träger des Eisernen Kreuzes und Mitglied im deutsch-nationalen Frontkämpferbund "Stahlhelm", hängte sogar ein Bild des "Führers" in der Wohnung auf. Auch Tochter Hilde ließ sich von der Begeisterung anstecken, ohne jedoch zu ahnen, dass nicht nur die Großeltern ihrer Mutter jüdisch waren, sondern auch ein Großvater väterlicherseits. Damit galt sie für die Nazis als "Volljüdin". Doch zu dieser Zeit quälten sie ganz andere Sorgen. Sie verstand sich partout mit ihrer Stiefmutter nicht und wollte schleunigst aus dem Elternhaus. So trat sie in das Diakonissenhaus Henriettenstift in Hannover ein und erlernte den Beruf als Krankenschwester.

 

Auch im Henriettenstift verkannte man die neuen Machthaber. Mit ihrem großen Vorbild, Lehrschwester Frieda Teupke, freundete sie sich an. Die Lehrschwester war überzeugte Nationalsozialistin.

 

„Wenn Hitler Geburtstag hatte, mussten wir mit einer Laterne um den Tisch herum gehen und singen. Aber trotzdem war ich dort glücklich, ich hatte ja auch sonst niemanden. Wir hatten einige alte Schwestern, die haben mir geholfen, und dann war da eben die Schwester Frieda, die Lehrschwester, die waren eben wirklich christlich eingestellt. Und ich habe gewusst, ich bin nicht alleine.“

 

Nachdem ihr Vater 1935 gestorben war und ihr älterer Bruder geheiratet hatte, war der Henriettenstift ihre Familie, ihr Zuhause. Doch nach der Progromnacht 1938 traf der braune Rassenwahn auch sie in voller Härte. Auf "Bitte" der Leitung des Henriettenstiftes musste sie im Sommer 1939 ihre Schwesterntracht zurückgeben und das Diakonissenhaus verlassen. Der Bruder und seine Frau flohen aus Deutschland. Hilde Schneider war nun auf sich allein gestellt, denn zu anderen jüdischen Mitbürgern hatte sie bis dahin nie Kontakt. Ihr wurden Schmuck und Wertsachen, die sie vom Vater geerbt hatte, abgenommen. Ab Frühsommer 1939 war sie laut Gestapo nicht mehr lutherisch, sondern jüdisch und hieß nun Hilde "Sara" Schneider. Versuche, zu emigrieren, scheiterten. Aber ihr blieben ihr Glaube und Gottvertrauen. Sie besuchte weiterhin die Gottesdienste, über den Seiteneingang, den Judenstern durch die Handtasche verdeckend. Am 2.11.1941 wurden die Diakonissen eingekleidet, die mit ihr zusammen begonnen hatten. Als "Arierin" wäre es auch ihr Einsegnungstag gewesen. Als ob das nicht schon ausreichte, ließ ihr kurz darauf die Oberin ausrichten, dass sie als Jüdin keine Kirche mehr betreten darf.

 

Die ehemalige Lehrschwester, die begeisterte Nationasozialistin Frieda Teuke blieb ihr einziger kleiner Rückhalt. Einerseits tat sie Hildes Erzählungen über die herschenden Lebensbedingungen der Juden in den "Judenhäusern" als Gräuel- und Lügengeschichten ab, andererseits war sie besorgt um das Schicksal ihrer ehemaligen Schülerin. Trotz Verbot besuchte sie regelmäßig die junge Frau. Hilde Schneider setzte ihre Ausbildung im Jüdischen Krankenhaus fort, wo sie das Examen im März 1941 ablegte. Dann wurde sie zu Zwangsarbeit in einer Fabrik verpflichtet. 1941 deportierten die Nazis die Einundzwanzigjährige nach Riga ins Ghetto.

 

Hilde Schneider erzählte: "Ich lebte eigentlich schon immer mit gepacktem Tornister. Es war mir ja ganz klar, dass ich weg kam. Gut, man hofft dann immer noch irgendwo heimlich im Herzen, vielleicht musst du nicht weg, aber, nein, ich war gleich beim ersten Transport und auch bei den ersten Leuten, die reinkamen. Zuerst haben wir fünf Tage in Hannover im Lager verbracht, wo sie alle zusammen geholt haben, und da wurde alles aufgeschrieben. Montags bin ich reingekommen, und Freitag sind wir dann losgefahren. Fünf Tage waren wir, glaub ich, unterwegs, und wir hatten keine Ahnung, wohin es ging. Dann landeten wir in Riga und mussten lange laufen bis ins Ghetto. Dort kamen wir dann in Wohnungen rein, wo alles auf der Erde lag, wo das Essen noch im Herd stand, die Türen waren aufgerissen, es war furchtbar."

 

Die vorigen Ghettobewohner, 27000 lettische Juden, waren einer "Säuberungsaktion" zu Opfer gefallen. Sie waren ermordet worden. Das Ghetto wurde von den Nazis für die deportierten Juden aus Deutschland benötigt.

Für Hilde Schneider war der Aufenthalt in Riga zusätzlich erschwert:

„Ich war ja unter lauter Juden allein, und die haben mich irgendwo nicht ganz akzeptiert, denn ich war ja keine richtige Jüdin in ihren Augen, ich war Christin, und dadurch hab ich eben dann auch nicht soviel Kontakt gehabt. Einmal fragte ich, ob ich vielleicht im Kindergarten arbeiten könnte. Aber da sagte die zuständige Dame, dass sie das nicht gerne möchten, denn sie wollten die Kinder ganz jüdisch erziehen, die hatten Angst, dass ich da irgendwie Einfluss nehme, nun ja, ich hab das verstanden. Aber deshalb musste ich nachher raus auf die Kommandos. Und laufen.“

 

Trotz ihrer Erfahrungen gab sie ihren protestantischen Glauben nicht auf.

„Bibel und Gesangbuch war natürlich verboten, aber ich habe sie durch gekriegt. Manchmal habe ich sie eingepackt in ein Handtuch, wenn wir verschoben wurden, wir blieben ja nicht immer an einem Ort. Wir mussten uns völlig nackt ausziehen und durften nur einen Waschbeutel haben, da konnte ich aber die Bibel nicht reintun. Deshalb hatte ich sie unter einen Strohsack gelegt, in der Hoffnung dass ich sie so mitkriegen konnte. Da war aber ein SS-Mann, der hat die nackten Frauen geschlagen und rumgeschrien, und ich dachte, was kannst du jetzt machen, du brauchst die Bibel, du kannst nicht anders. Wir durften die eigentlich nicht anreden, sondern wir mussten warten, bis wir angeredet wurden. Aber ich hab mir gedacht, Schluss, aus, mit den Schuhen in der Hand, damit er reingucken konnte, und völlig nackig sagte ich, ich möchte gerne meine Bibel mitnehmen. Dem sind fast die Augen aus dem Kopf gerollt. Er hat gefragt, wo sie ist, und ich bin hingegangen, hab sie unter dem Strohsack rausgeholt, er hat drin rumgeblättert, hat sie mir dann hingegeben und gesagt: Nimm sie mit - als ob er mir den Segen geben wollte. Und dann fing er wieder an, die Frauen zu schlagen und zu schreien. Solche Erlebnisse, die haften an einem, da weiß man wieder ganz genau, Gott ist da.“

 

Im August 1943 wurde Hilde Schneider ins Konzentrationslager Riga-Kaiserwald gebracht, im Winter gehörte sie zu einem Arbeitskommando bei der AEG in Riga. Danach arbeitete sie wieder als Krankenschwester. Im Sommer 1944 wurden die Lager in Riga "evakuiert", die meisten Insassen nach Stutthof bei Danzig gebracht. Hilde Schneider kam in ein Lager in Thorn, Torun, dessen Räumung vor der anrückenden Roten Armee Ende Januar 1945 im Chaos endete, was Hilde Schneider und andere KZ-Insassen zur Flucht nutzten. Doch die Qual hatte kein Ende. Sie erzählte:

 

"Wir waren nach Bromberg reingekommen und kamen in einem Schuppen unter, den wir aber nicht abschließen konnten, Licht hatten wir auch nicht. Wir waren, glaube ich, sieben Leute. Und dann kam so ein kleiner Russe rein, der legte sich in meine Arme und schlief ein. Später hat er uns ein bißchen Weißbrot und Leberwurst gebracht, das hatten wir lange nicht mehr gegessen. Aber dann kamen noch andere, ganz gemeine Kerle. Die sind immer zu uns beiden gegangen, zu der Frau, die neben mir lag, und zu mir. Und dann hat meine Nachbarin immerfort geschrien, sie kann nicht mehr, der hat die also vergewaltigt. Und dieser Kerl, der bei mir lag, der hatte sich auch auf mich gelegt, aber er hatte ein Gewehr und das hat ihn natürlich behindert. Dann hat er mich gefragt, ob ich krank wäre, ich hatte nämlich überall da, wo die Läuse gewesen waren, solche Eitersachen. Und ich Schafskopf habe beleidigt gesagt, nein, und als ich ihm nachher erklären wollte, dass ich doch krank wäre, hat er mir das nicht abgenommen. Aber dann hat er sich aufgesetzt und das Gewehr weggelegt, und da bin ich bin unter ihm weggekrochen und hab mich ganz woanders hingelegt. Wir hatten ja kein Licht, da war ich also gerettet."

Der Weg in die Freiheit war also wenig triumphal, sondern gefährlich und ebenfalls gprägt von Gewalt. Dennoch schaffte sie es, sich bis nach Hannover durchzuschlagen, wo sie im Juni 1945 eintraf. Im Diakonissenhaus hieß man sie zwar Willkommen. Doch es war zuviel passiert, um einfach zur Tagesordnung zurückzukehren. Holocaustüberlebende stießen außerdem bei vielen Leuten als "wandelndes schlechtes Gewissen" und Konfrontation mit den Naziverbrechen auf Ablehnung.

 

Der Jornalist Hartmut Schmidt, der die 84jährige Hilde Schneider in ihrem kleinen Altenwohnheim-Appartement im Taunus interviewte, berichtete dazu:

„Hilde Schneider kam zurück, froh und glücklich, überlebt zu haben, und gleichzeitig auch unglücklich, überlebt zu haben, weil sie erlebt hat, dass die meisten, mit denen sie deportiert worden war, nicht überlebt hatten. Sie musste erst langsam ihre eigene, neue Rolle finden. Es lag ihr fern, als Fordernde zurückzukehren. Zum Beispiel forderte sie Dinge aus ihrer Habe, die sie vor der Deportation Freundinnen oder anderen Personen gegeben hatte, darunter wertvolles Essbesteck oder Geschirr, nicht zurück. Sie war aber natürlich zutiefst enttäuscht, dass ihre Freundinnen, denen sie das gegeben hatte, zum Teil gar nicht auf den Gedanken kamen, ihr das zurückzugeben. Das muss sich alles tief in sie eingeprägt haben, in ihre Enttäuschungen nach 45. Und nicht nur, dass man sie nicht hören wollte. Von einer Freundin wurde sie sogar als Angeberin bezeichnet, wenn sie von ihrer Geschichte erzählt. Stattdessen redeten alle über ihre eigenen Leiden, die Bomben auf Hannover oder die Flüchtlinge, darüber wurde viel mehr geredet als über das, was jüdischen Menschen geschehen war. Und so war das wohl eine Gesellschaft des Selbstmitleids, in der für Personen wie Hilde Schneider wenig Platz war.

 

Bereits in der Gefangenschaft beschloss sie, in der Gefangenenseelsorge arbeiten zu wollen, falls sie den Terror im KZ überleben sollte. Sie wusste, was es heißt, der Freiheit beraubt zu sein, gleich, aus welchen Gründen. So holte sie nach ihrer Rückkehr und der Einsicht, dass ein Verbleib im Henriettenstift zu schwierig wäre, mit 27 Jahren an einem Knabengymnasium ihr Abitur nach und studierte in Göttingen Theologie. Zunächst arbeitete sie als Vikarin in Bremerhaven. Ab 1959 wirkte Hilde Schneider als Gefängnisseelsorgerin im Frauengefängnis in Frankfurt-Preungesheim.

 

Gegen den Henriettenstift oder die Kirche hegte sie trotz aller negativen Erfahrungen nie Groll. Sie betonte, dass sie dort die Glaubensstärke bekommen habe, um das Ghetto und KZ zu überleben. Und sie stellte sich oft die Frage: Was wäre gewesen, wenn ich nicht plötzlich zur Jüdin gemacht worden wäre, wo wäre ich gestanden?“

 

Quellen: Zwischen Riga und Locarno. Bericht über Hilde Schneider, ISBN-13: 978-3889811271

 

 

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